Tapfere Eltern
Familie Teschke, Dezember 1944
Flucht aus Riesenburg
Am 21. Januar 1945, 13 Uhr, trat ich als erster mit kleinem Handgepäck vor unsere Haustür in Riesenburg. Ich war damals 8 Jahre alt. Mir folgten Willfried (7 Jahre) und Reinhard (5). Zum Schluß kam meine Mutter (36) mit Margret (2) an der Hand. Die Haustür wurde nicht abgeschlossen. Die Russen, so hieß es, würden verschlossene Haustüren als erstes eintreten.
Es war bitterkalt, es lag Schnee, aber es schien die Sonne. Ich sah nach rechts zur Chaussee nach Marienburg, an der der Bauernhof meines Schulfreundes Siegfried Mohnwitz 200 m weiter rechts lag. Die Straße war übersäht von Frauen, die ihre Koffer auf Schlitten zogen und ihre Kinder an der Hand führten. Sie strebten alle dem Bahnhof zu. Der Räumungsbefehl war einen Tag vorher, am 20. Januar, gekommen. Zuerst sollten Frauen und Kinder die Stadt verlassen, auf dem Bahnhof sollte ein Zug dafür bereitstehen.
Letztmalig waren wir privilegiert: Herr Niederbäumer, ein Bekannter von uns, fuhr uns mit dem Auto zum Bahnhof, wo der Zug auf einem Güterabstellgleis stand. Dort war Chaos. Ich erlebte es hier erstmals, dann noch oft: Die ankommenden Leute stürmten den Zug, bestehend aus Personenwagen 3. Klasse, der viel zu kurz war. Es galt uneingeschränkt das Recht des Stärkeren. Keine ordnende Hand war in Sicht: Kein Bahnpersonal, keine Polizei, keine Soldaten und natürlich keine Parteigenossen. Schreiend machten die Unterlegenen ihrer Empörung Luft. Herr Niederbäumer half uns beim Einsteigen und beim Verstauen unseres Gepäcks: Ein Riesenkoffer, völlig ungeeignet für die Flucht, da ihn einer allein kaum tragen konnte, ein großer Sack mit Betten, der sich am Anfang als sehr nützlich erwies, aber auch nicht von einer Person zu tragen war; sonst nur Handgepäck. Es gelang, drei Sitzplätze für uns fünf zu ergattern. Meine Mutter meinte später immer wieder, Herr Niederbäumer hätte uns angesichts dieser Verhältnisse wieder mit zurücknehmen sollen. Aber wie hätte er das tun sollen, wo er doch nicht wissen konnte, ob er selbst die Stadt noch irgendwie verlassen konnte. Auf der anderen Seite des Bahnhofs sah ich einen anderen Zug stehen. Er hat am nächsten Tag Familie Niederbäumer und alle anderen Nicht-Frauen und Nicht-Kinder in zwei Tagen bis ins Vogtland gebracht.
Der Zug fuhr nicht ab. Im Abteil war es drückend heiß. Babys schrieen, meistens drei auf einmal. Die Frauen berichteten, daß sie plötzlich keine Milch mehr zum Stillen hatten; wahrscheinlich bedingt durch den Schock der plötzlichen Flucht. Neben uns saß die Friedhofsfrau mit ihren Kindern, die die Toten für die Bestattung vorbereitete. Sie wohnte in unserer Straße zwei Häuser weiter. Sie war völlig außer sich, schimpfte laut auf das System und sagte, sie wolle lieber wieder zurück zu ihren Toten. Bald wurde es dunkel. Fahles Licht erleuchtete die Abteile. Die Kinder, auch meine Geschwister, schliefen ein, zum Teil auf dem Boden liegend. Als es ganz dunkel war, fuhr der Zug los, hielt aber immer wieder an. Gegen Mitternacht, ich war immer noch wach, hielt der Zug sehr lange. Eine Frau öffnete das völlig zugefrorene Fenster und las als Stationsnamen Dakau. Das war die erste Station von Riesenburg in Richtung Marienburg, 8 km von Riesenburg entfernt. Im Zug hatte es sich herumgesprochen, daß das Fahrtziel Stargard sein sollte. Meine Mutter dachte, damit wäre Pommersch-Stargard gemeint, und freute sich, weil wir dann etwas aus der Gefahrenzone herausgekommen wären. Leider war Preußisch-Stargard das Ziel, kaum 80 km von Riesenburg entfernt, auf der Westseite der Weichsel; wie sich bald herausstellte, ein völlig sinnloses Ziel.
Im Zug gab es keine Betreuung und keine Verpflegung, vor allem kein Wasser und keine Milch für die Babys. Kurz nach Dakau sangen die Frauen im Nachbarabteil ein frommes Lied: Das erste Baby war gestorben, Stunden später starb noch ein weiteres. Ich schlief dann auch ein.
Dreidorf, Kreis Preußisch-Stargard
Als meine Mutter mich weckte, war draußen früher Morgen. Wir waren am Ziel: Dreidorf, Kreis Preußisch-Stargard. Beim Aussteigen sah meine Mutter unseren Speicherarbeiter Grunwald, der unseren Zug in Rot-Kreuz-Uniform begleitet hatte. Da wir alle brennenden Durst hatten, bat ihn meine Mutter, uns etwas Wasser zu bringen. Als er nach einiger Zeit zurückkam, hatte er in einem Kochgeschirr etwas Schnee aufgetaut. Er meinte, er müsse mit dem Zug zurück nach Riesenburg fahren, um weitere Flüchtlinge zu holen. Vor dem Bahnhof warteten Bauern mit großen, mit Pferden bespannten Schlitten, um die Angekommenen zu ihren Höfen zu fahren. Wir bekamen keinen Schlitten mehr ab und warteten endlos im Schnee. Zum Schluß lud uns der Bürgermeister, der die Verteilung leitete, auf seinen Schlitten und fuhr uns zu einem ganz abgelegenen Gehöft. Lange warteten wir draußen, während der Bürgermeister drinnen verhandelte, weil uns die Bauernfamilie nicht aufnehmen wollte. Dann aber konnten wir doch in ein kleines Zimmer mit zwei Betten mit Strohunterlage ziehen. Es war die Familie H. Ossowski, der Ort hieß Lonzwalde, Post Dreidorf. Nachts hörte ich, wie an die Fenster geklopft wurde und leise Gespräche geführt wurden. Es waren Partisanen der Umgebung, die von der Familie versorgt wurden. Da war klar, daß sie gezögert hatten, uns aufzunehmen. Am nächsten Tag ging ich mit meiner Mutter bei starkem Frost, aber Sonnenschein zum nächsten Ort, er hieß Ofen. Dort bekamen wir Lebensmittelkarten und konnten in einem Laden einkaufen. Wir trafen eine andere Familie aus Riesenburg. Ein Mädchen kannte ich aus der Schule. Es lachte und scherzte mit mir den ganzen Weg. Auf dem Heimweg verschlechterte sich das Wetter. Ein Schneesturm kam auf, ein eiskalter Wind blies uns ins Gesicht. Wir kamen an einer Hauptstraße vorbei (es war die Reichsstraße 1 Königsberg-Aachen), auf der auf spiegelglatter Fahrbahn endlose Trecks gen Westen strebten. Meine Mutter sagte: „Hoffentlich werden wir es mal nicht so schlimm haben wie diese armen Menschen“. Sie wußte nicht, was uns erwartete.
Weitertransport nach Putzig Nach gut drei Wochen, wohl am 12. Februar, wie ich später rekonstruiert habe, wurden wir wieder abgeholt und weitertransportiert; und zwar genau nach Norden in die Stadt Putzig an der Danziger Bucht. Natürlich hatten wir gehofft, nun dieses Mal ins „Reich“ (so wurde in Ostpreußen immer Deutschland ohne Ostpreußen genannt) zu kommen. Aber dieser Transport war noch sinnloser als der erste. Obwohl die Entfernung wieder nur knapp 100 km betrug, war die Fahrt endlos. Nachts standen wir Stunden auf dem Bahnknotenpunkt Dirschau. Es verbreitete sich das Gerücht, daß im Bahnhofsgebäude Butter verteilt würde.
Und tatsächlich kamen einige Frauen nach einer gewissen Zeit mit Butterpaketen zurück. Pro Familie gab es ein halbes Pfund. Meine Mutter zögerte lange, bedrängt von meinen kleinen Geschwistern, uns nicht zu verlassen. Solch eine Szene sollte sich später bei ähnlicher Gelegenheit noch oft wiederholen: Meine Mutter war immer an uns gefesselt und kaum handlungsfähig; im Gegensatz zu Familien, in denen mindestens zwei Frauen waren. Nach Stunden des Wartens lief meine Mutter erst zum Lokomotivführer, fragte ihn nach der Abreise, die er natürlich auch nicht genau wußte, und kam dann mit dem Butterpaket zurück. Mir hat die Butter wegen der erlittenen Angst nicht geschmeckt. In Putzig wurden wir wieder auf Bauernhöfe verteilt. Wir kamen zum Bauernhof des Bauern August Jarmulewski in das Dorf Miruschin bei Strellin; und zwar in den Ortsteil Brünhausen, der nur wenige Höfe umfasste. Den Hof habe ich später mit meinem Sohn Ulf wiedergefunden. Wir stellten auch fest, daß der Ort nur 10 km von dem früher bekannten Ostseebad Habichtsberg entfernt liegt. Aber das wußten wir damals nicht. In dem einen Zimmer bei Jarmulewskis waren außer uns noch eine „ausgebombte“ Familie aus Berlin, die in Westpreußen vor dem Bombenkrieg Zuflucht gesucht hatten: Ein älteres Ehepaar und ihre Tochter; vielleicht 25jährig. Eigentlich herrschte auch hier wie in Dreidorf tiefster Friede. Wir bekamen wieder Lebensmittelkarten (am 14.2., wie im Führerschein meiner Mutter vermerkt ist) und kauften in Strellin ein. Aber das Dorf war etwas entfernt und für uns zu Fuß nur schlecht zu erreichen, weil hoher Schnee lag. Die Bauernfamilie war nett zu uns. Sie hatte fünf Kinder. Besonders lebhaft erinnere ich mich an die beiden Töchter Helena und Theresa, die aber schon 18 und 16 Jahre alt waren. Sie wurden uns zunächst als Helene und Therese vorgestellt, und das hatte seinen Grund: Strellin befand sich nämlich in der sogenannten Kaschubei, zwischen Hinterpommern und der Danziger Bucht gelegen. Die Kaschuben (sie spielen auch in einem GRASS-Roman eine Rolle) sind Slawen, fühlten sich aber damals weder als Polen noch als Deutsche. Sie „hingen ihren Mantel nach dem Wind“; notgedrungen: Als 1918 das Gebiet polnisch wurde, gaben sie vor, Polen zu sein, und wurden gegenüber den anderen in dem Gebiet wohnenden Deutschen natürlich bevorzugt. Als nach dem „Polenfeldzug“ 1939 das Gebiet wieder deutsch wurde, gaben sie sich wieder als Deutsche aus, beide Sprachen beherrschten sie ohnehin. Sie entgingen dadurch Repressalien durch das 3. Reich: Von der Frau des Lehrers von Strellin erfuhren wir, daß ihr Mann und mit ihm alle Lehrer und polnischen Angehörigen der Intelligenz des Gebietes schon Ende 1939 auf Nimmerwiedersehen abtransportiert worden waren. Auch sie hatte von ihrem Mann nichts mehr gehört. Die Bauernfamilie erwartete die kommenden Ereignisse ohne Furcht: Sie wollten sich wieder als Polen ausgeben.
Vergeblicher Weitertransport nach Westen Wir müssen zunächst ungefähr drei bis vier Wochen bei Jarmulewskis gewesen sein. Dann sollten wir endgültig ins „Reich“ transportiert werden. Also wurden wir wieder nach Putzig gebracht. Dieses Mal bestand der Transportzug aus Güterwagen, deren Boden mit Stroh ausgelegt war. Wir gehörten zu den ersten Ankömmlingen und konnten uns mit unserem Gepäck eine schöne Ecke in einem Güterwagen aussuchen. Aber der Zug stand wieder endlos, und immer neue Leute stiegen ein, die sich mit offener Brutalität selbst breiten Raum verschafften. Zum Schluß saß meine Mutter in der Mitte des Waggons, und wir alle lagen zu ihren Füssen. Damals lernten wir auch eine Juweliersfamilie aus Deutsch-Eylau kennen: Großmutter, zwei Töchter mit je zwei Kindern und eine große, geistig behinderte Tochter. Diese Familie hatte bei der Fluchtvorbereitung Uhren und Schmuck, so viel wie nur möglich, in die Kleidung, besonders in die Kindermäntel, eingenäht. Viel wurde später von den Russen gefunden. Einmal hat es uns auch aus schwieriger Situation gerettet. Zunächst aber zeichneten sich auch diese Frauen durch Brutalität aus. Und zu viert war ihnen kaum jemand gewachsen, schon gar nicht meine Mutter. Als der Zug nach einem halben Tag losfuhr, kamen wir zunächst gut voran, wahrscheinlich 200 km. Dann hielt der Zug immer öfter, und wir hörten Kampflärm, Maschinengewehr- und Artilleriefeuer. Dann schob die Lokomotive den Zug rückwärts bis zum nächsten Bahnhof, und es hieß, die Russen hätten die Bahnlinie abgeschnitten, wir müssten wieder zurück. Völlig deprimiert wurden wir in Putzig wieder von Jarmulewskis abgeholt. Wir kamen mit den Berlinern erneut in unser altes Zimmer. Einmal gab es noch Hoffnung: Nach ein paar Tagen kam der Bürgermeister und fragte meine Mutter, ob wir von Gotenhafen mit dem Schiff ins „Reich“ wollten. Meine Mutter stimmte zu, und einen Tag später sollte uns ein Bus abholen. Dieser Bus ist nicht gekommen: Glück oder Unglück? Hätten wir zu den 40.000 Menschen gehört, die mit den Schiffen untergegangen sind oder zu den zwei Millionen, die die Überfahrt überstanden haben?
Ankunft der Russen Dann kamen die Russen: Das kündigte sich dadurch an, daß eine kleine deutsche Einheit den Raum zwischen dem Ort Strellin und unserem Bauernhof besetzte. Es gab einen kleineren Hügel in der Nähe des Hofes mit einer Kapelle, der das Gelände beherrschte. Dort gruben sich einige Soldaten mit ihrem Maschinengewehr ein. Die Soldaten waren noch jung und hatten große Angst. Als meine Mutter gegen Abend vom Einkaufen im Dorf zurückkam, fragte sie angsterfüllt ein Soldat: „Wohnen Sie dort hinten? Sind da schon die Russen?“ Dann rief uns der Bauer und zeigte uns im Westen einen Abhang einige Kilometer entfernt, der von der Abendsonne beschienen wurde. Dort liefen die Russen den Hügel in Scharen herunter. Sie waren klein wie Ameisen, aber ich konnte sie in ihren hellbraunen Uniformen gut erkennen. Des nachts kam der Bauer in unser Zimmer. Die Russen waren da. Er machte alle Fenster auf, denn auf dem Hof richteten die Russen eine Artilleriestellung ein. Wir mußten das Haus verlassen und auf dem Hof in einen Kohlenbunker gehen. Draußen sah ich das Aufblitzen des Mündungsfeuers aus der deutschen Maschinengewehrstellung. Die Russen schossen zwei Mal aus ihrer großen Kanone. Dann rührte sich drüben nichts mehr. Mit meinem Sohn Ulf habe ich den Hügel abgesucht. Die Laufgräben der Maschinengewehr-Stellung waren noch gut zu erkennen. Daneben waren zwei Gräber, von Gras bewachsen. Jemand hatte frische Blumen niedergelegt. Nach ein paar Tagen mußten sich alle Flüchtlinge in der Schule von Miruschin versammeln. Das Gebäude ist mir in guter Erinnerung und sieht heute noch genauso aus. Zum letzten Male halfen uns die Töchter von Jarmulewskis beim Tragen unseres schweren Gepäcks. Das war schwierig, denn inzwischen war der Schnee getaut, und alle Feldwege, und zur Schule gab es nur solche, waren grundlos verschlammt. Die Stunden oder Tage in der Schule sind mir in grausiger Erinnerung. Wir lagen in dem großen Klassenzimmer inmitten unseres Gepäcks. Eine hochschwangere Frau aus Riesenburg bekam ihre Wehen. Sie lag mitten unter uns und wurde ab und zu unter heftigem Stöhnen herumgeführt; von einer Frau aus dem Dorf, die ihr bei der Niederkunft behilflich sein wollte. Eine betrunkene und johlende Gruppe Russen, die an einem Tisch saß, übte Messerwerfen auf die Schultafel. Dabei versuchten sie immer, die Messer so knapp wie möglich über die dazwischenliegende Schwangere zu werfen. Dann kam das Kind in einem Nachbarzimmer zur Welt. Schließlich wurde uns der Befehl erteilt, die Schule zu verlassen und uns von der Ostsee, deren Lage wir gar nicht kannten, mindestens 30 km zu entfernen; zu Fuß natürlich. Alle mussten ihr großes Gepäck zurücklassen. Wir warfen unseren großen Koffer und den Sack mit den Betten in den Keller der Schule. Immer wieder rief die Frau mit dem neugeborenen Kind meine Mutter und bat sie, doch bei ihr zu bleiben und sie nicht mit den Russen allein zu lassen.
Fußmarsch nach Westen Dann zogen wir los, eine Gruppe von ungefähr 30 Personen. Die Ausgebombten aus Berlin waren auch dabei. Ob die Gruppe einen Führer hatte oder ob jemand die Richtung angab, weiß ich nicht mehr. Wir schleppten uns auf aufgeweichten Feldwegen, aber auch über freies Feld dahin. Keiner von uns klagte. Am erstaunlichsten war das Verhalten von Margret. Sie lief an der Hand meiner Mutter und hielt das Tempo der Gruppe. Was wäre aus uns geworden, wenn sie nicht mehr weiter gekonnt hätte? Wir konnten sie ja nicht tragen, und die Gruppe war unser einziger geringer Schutz. Die erste Nacht verbrachten wir in einer Kirche. Wir schliefen auf den Bänken, und über uns donnerten im Tiefflug Flugzeuge. Meine Mutter sagte leise: „Wenn sie doch eine Bombe abwerfen würden, dann wäre wenigstens alles vorbei.“ Einmal wurden wir von einer Gruppe Russen beschossen. Das Sirren der dicht vorbeifliegenden Kugeln ist mir in guter Erinnerung. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Einmal kamen wir zu einem großen Gut, das die Russen geplündert hatten. Sie hatten alle Betten aufgeschlitzt und aus den Fenstern geworfen. Die ganze Gegend war mit weißen Federn bedeckt. Auch der andere Hausrat lag überall herum. Ich sah auch 100-Mark-Scheine, die niemand aufhob. Nach einigen Tagen, ich habe keine Vorstellung mehr, wie viele es waren, kamen wir in einen Ort mit einer großen russischen Kommandantur. Wir wurden in einen kleinen Raum gesperrt. Als erstes kam ein einfacher russischer Soldat, durchsuchte systematisch alle unsere kleinen Handgepäckstücke und steckte alles ein, was ihm irgendwie wertvoll erschien; ein Vorgang, der sich später noch oft wiederholen sollte. Willfried hatte als Handgepäck seinen Schultornister, in den meine Mutter unsere wichtigsten noch verbliebenen Sachen und Dokumente gesteckt hatte. Es wäre reiche Beute für den Russen gewesen. Willfried hatte den Tornister zwischen den Beinen. Meine Mutter zwinkerte Willfried ständig zu, und ich sah, wie er den Tornister ganz langsam unter den Schrank schob, der hinter ihm stand. Willfried hat auch in späteren Situationen starke Nerven gehabt. Nach dieser Durchsuchung kam der Kommandant, ein untersetzter, aufgeschwemmter Hauptmann. Er hielt auf gebrochenem Deutsch eine Rede über die Faschisten. Er versprach uns, daß wir alle wieder nach Hause könnten. Dann goß er zwei Wassergläser voll Wodka und forderte den einzigen Mann unserer Gruppe, das war der alte Herr der ausgebombten Familie aus
Berlin, auf, mit ihm darauf anzustoßen. Der alte Herr nahm einen kleinen Schluck und fiel davon fast in Ohnmacht. Der Kommandant lachte und leerte sein Glas in einem Zuge.
Rückfahrt nach Osten Wir blieben einige Tage bei dieser Kommandantur. Wir schliefen in großen Räumen zusammen mit anderen Flüchtlingsgruppen. Nachts holten die Russen die jungen Frauen. Diese versuchten sich zu verstecken, hatten ihr Gesicht mit Ruß beschmiert und zerlumpte Sachen angezogen. Aber es nutzte alles nichts: Die Russen schlugen sie mit ihren Gewehrkolben, bis sie mitkamen. Wenn sie Stunden später zurückkamen, weinten sie. Vorläufig war meine Mutter noch nicht betroffen. Eine junge Frau aus Deutsch-Eylau, die ihre Schwester mit zwei Kindern begleitete, machte aus dieser bösen Not eine „Tugend“: Sie „ließ sich mit dem Kommandanten ein“, wie meine Mutter sagte. Der Lohn folgte auf dem Fuße: Der Kommandant „schenkte“ ihr einen Planwagen und zwei Pferde, damit sie damit nach Hause, eben nach Deutsch-Eylau, fahren konnte. Sie konnte bestimmen, wer mitfahren konnte. Natürlich wollten alle mitfahren. Sie suchte sich zuerst einen alten Mann aus, der gut mit Pferden umgehen konnte. Er wurde der Kutscher. Dann kam natürlich ihre Familie. Anschließend wurde die Juweliersfamilie ausgesucht, die auf anderen Wegen auch dort angekommen war. Das waren immerhin sieben Personen. Dafür hat sie bestimmt viele Uhren und viel Goldschmuck bekommen. Dann kamen die drei Personen der ausgebombten Familie aus Berlin. Womit die sie bestochen haben, weiß ich nicht. Damit war der Wagen voll. Meine Mutter flehte die junge Frau mehrere Male an, uns doch auch mitzunehmen, aber sie lehnte immer wieder ab. Wir hatten ja auch keine Dinge mehr zum Bestechen. Zum Schluß wurde doch noch ein Kompromiß ausgehandelt: Die beiden kleinen Geschwister sollten auf dem Wagen mitfahren, Willfried sollte neben dem Kutscher sitzen, meine Mutter und ich sollten zu Fuß hinterhergehen. So wurde dann auch verfahren. Die erste Zeit geschah es öfter, daß der Wagen schneller fuhr, als wir gehen konnten. Wir hatten dann Mühe, den Wagen noch im Blick zu behalten. Das tat mit der Zeit dem Kutscher leid. Er setzte Willfried zu den anderen Geschwistern, nahm meine Mutter mit zu sich auf den Kutscherbock und schob ein Längsbrett des Wagenunterbodens etwas nach hinten, so daß ich hinten außerhalb des Wagens einen kleinen Notsitz hatte, von dem ich allerdings jederzeit herunterfallen konnte. Immer wenn der Wagen hielt,kam meine Mutter nach hinten gelaufen, um zu sehen, ob ich noch da war. Aufregend und gefährlich waren die Straßenkontrollen der Russen: Der Kommandant hatte uns zwar einen „Propusk“ ausgestellt, eine Bescheinigung auf russisch für freie Durchfahrt, aber der nutzte nur wenig, denn meistens waren die kontrollierenden Russen betrunken. Einmal drohte ein randalierender Russe, alles kurz und klein zu schlagen, wenn er nicht sofort eine Uhr bekäme. Da konnte natürlich die Juweliersfamilie aushelfen und die drohende Katastrophe verhindern. Ein anderes Mal spannte ein betrunkener Russe einfach ein Pferd aus und führte es weg. Wie viele Tage wir so gefahren sind, weiß ich nicht mehr. Hinten hatte ich einen guten Überblick und sah viele zerschossene und abgebrannte Dörfer. Einmal bogen wir kurze Zeit auf eine große Hauptstraße ein, die unser Kutscher sonst wegen der häufigeren Kontrollen möglichst vermied. Sie bot einen schrecklichen Anblick: Offenbar hatten dort Panzer Trecks links und rechts in die Straßengräben geschoben. Außerdem hatten dort wohl heftige Kämpfe stattgefunden. Ein toter deutscher Soldat mit furchtbarem schwarzen Kopf ist mir in Erinnerung geblieben. Ich war froh, als wir die Straße wieder verließen. Mit unserem einen Pferd kamen wir nur noch langsam voran. Nach langer Fahrt auf einem sandigen Feldweg legte das Pferd sich plötzlich hin, wand sich in Krämpfen und starb. Unsere Fahrt war zu Ende. Als erstes erschien ein russischer Offizier und wollte alle Frauen sehen. Er suchte sich die Tochter der ausgebombten Familie aus und trieb sie mit seinem Revolver in ein nebenstehendes Haus. Ich höre sie noch schreiend ihren Vater um Hilfe rufen.
Der Sommer 1945 in Hinterpommern Wir waren am Rande des Dorfes Mackensen, Kreis Lauenburg, angekommen. Die Häuser waren menschenleer, aber unbeschädigt und vollständig eingerichtet. Die Bewohner waren in die Nähe des großen Gutes auf der anderen Seite des Dorfes gezogen, wo eine Kommandantur eingerichtet worden war. Dort waren sie nur den Drangsalierungen der dortigen Russen, nicht aber den durch das Land vagabundierenden ausgesetzt. Sie waren sehr damit einverstanden, daß wir in ihre Häuser zogen. Sie versprachen sich davon, daß ihre Häuser dann vielleicht nicht so leicht von den herumziehenden Russen geplündert oder angesteckt würden. So hatten wir für das folgende halbe Jahr wenigstens ein Dach über dem Kopf. Wir zogen zusammen mit Frau Günther und ihren zwei Kindern, sie war die eine Tochter der Juweliersfamilie, in das Haus von Frau Lietzow. Sie war Witwe, hatte zwei Töchter (Traudchen, 19 Jahre alt und Annemarie, 12 Jahre alt) und bewirtschaftete einen kleinen Bauernhof von vielleicht 10-20 Morgen. Das Dorf Mackensen liegt 8 km von Lauenburg entfernt, in der Niederung des Flusses Leba, der nach 20 km nördlich in den Leba-See fließt. Auf der schmalen Nehrung zwischen dem Leba-See und der Ostsee befinden sich die berühmten Wanderdünen, aber davon wußte ich damals natürlich nichts. Vom Hang hinter „unserem“ Haus hatte ich eine gute Aussicht über die Leba (1 km entfernt) hinweg auf die Hauptstraße und die Bahnlinie Lauenburg-Stolp (3 km entfernt). An dieser Straße konnte man auch die Dörfer Lischnitz und Langeböse erkennen. Ich glaube, daß unsere Irrfahrt von Miruschin bis Mackensen ungefähr 6 Wochen gedauert hat und daß wir Mitte April in Mackensen angekommen sind. Der Winter war vorbei, es wurde immer wärmer, wir brauchten nicht mehr zu heizen. Der größte Luxus war, daß wir nun sogar in Betten schlafen konnten, wenn auch mehrere Kinder in einem Bett. Es gab zwei große Probleme: Die Ernährung und die Überfälle der Russen. Einzige Ernährungsgrundlage für uns war die Kartoffelmiete an „unserem“ Haus. Da meine Mutter wieder kochen konnte (Brennstoff war getrockneter Torf und „Schuchchen“, große Zapfen der Kiefern), gab es Kartoffeln in allen nur denkbaren Variationen, und wir konnten wenigstens nicht verhungern. Alle anderen Lebensmittel, vor allem Milch, mußten von den in der Nähe der Kommandantur gelegenen kleinen Bauernhöfen zusammengebettelt werden. Es stellte sich schnell heraus, daß ich der Schlechteste im Betteln war. Dadurch wurde ich zu einer ernsten Belastung für die Familie. Erwachsene bekamen meist grundsätzlich nichts, also hatte es keinen Zweck, daß meine Mutter betteln ging. Oft erfolgreich war das Gespann Reinhard-Margret. Wenn sie angeklopft hatten, blieben sie einfach nur stehen, hielten sich an der Hand und sagten nichts. Willfried suchte die zu bebettelnden Höfe nach etwa noch vorhandenem Vieh oder anderen Gesichtspunkten aus. Er bekam meistens etwas. Wenn wir dann alle nach Hause kamen und ich nichts bekommen hatte, gab es oft böse Blicke der Geschwister, denn ich wollte ja auch mitessen. Kritisch wurde die Situation, als durch die zunehmende Wärme die Kartoffelmiete zu faulen begann und im Garten von Frau Lietzow noch nichts reif war. Da half uns eine Frau mit ihrer alten Mutter. Sie hatten eine Kuh und gaben uns jeden Tag eine Flasche Milch.Einmal bekamen wir auch ein warmes Mittagessen vom Gut: Dort gab es eine zentrale Küche für die Russen der Kommandantur. Es war streng verboten, Essen an Deutsche abzugeben. In der Küche arbeitete ein merkwürdig aussehender älterer deutscher Mann mit einer Nickelbrille. Wir nannten ihn Brillenaugust. An dem besagten Tag gab er uns etwas Suppe, nachdem er mit einem Sieb die zahlreichen herumschwimmenden Fliegen herausgefischt hatte. Es ekelte uns schon, aber der Hunger war stärker. Wochen später muß es zu großen Schwierigkeiten gekommen sein. Die Russen erschlugen Brillenaugust und warfen seine Leiche auf den Misthaufen des Gutes. Die wenigen Reste von Vieh, die bei unserer Ankunft noch da waren, wurden von den Russen bald erschossen. Das erging in den ersten Tagen einigen Ferkeln so, die noch herumliefen. Die Russen machten ein Lagerfeuer am nahen Bach und brieten die Ferkel am Spieß. Als sie abzogen, stellten wir fest, daß sie die Leber nicht gegessen hatten. Das war ein Fest: Meine Mutter briet uns die Leber, und wir wurden richtig satt. Es war die letzte Fleischmahlzeit dieses Sommers, an die ich mich erinnern kann. Einmal entdeckten wir ein einsames Huhn. Willfried verfolgte es ganz vorsichtig und lange. Schließlich kehrte er mit einem Ei zurück. Außerdem fand er dabei einen kleinen Sack Korn. Die Körner wurden in der Kaffeemühle zu Mehl gemahlen. So ging es wieder für ein paar Tage. Das Schlimmste waren die RussenüberfaÅNlle. Offenbar hatten sich große Teile der Roten Armee jeder Befehlsgewalt entzogen und zogen plündernd und vergewaltigend, manchmal auch mordend, durch das Land. Wir sollten beim Kommandanten Bescheid sagen, wenn solch ein Überfall stattfand, damit man uns zu Hilfe käme. Einmal habe ich beobachtet, wie es Traudchen, die bildhübsche ältere Tochter von Frau Lietzow, die oft unter den Russen zu leiden hatte, auch versuchte. Sie schlich sich bei einem Überfall heimlich zur Kommandantur. Als längst alles vorbei war, kam sie mit einem Gefreiten zurück, der fragte, was denn gewesen sei. Oft war ich hinter unserem Haus auf der mit Kiefern bestandenen Anhöhe und sammelte Schuchchen für unser Herdfeuer, da ich ja zum Betteln nicht viel taugte, und genoß den Ausblick über die Leba-Niederung. Wenn ich dann eine Staubwolke auf einem Feldweg sah, war höchste Gefahr im Verzuge. Meist kamen die Russen, oft von asiatischem Aussehen, blitzschnell mit Panje-Wagen, gezogen von kleinen Steppenpferden. Angekommen, sprangen sie von den Wagen, stürmten mit vorgehaltener Maschinen-Pistole in die Häuser und suchten vor allem nach Alkohol und Frauen. Die hatten sich auf meine Warnung hin meistens versteckt. Am schlechtesten verstecken konnte sich meine Mutter. Sie hatte Margret auf dem Arm und manchmal auch Reinhard an der Hand. So wurde sie oft eine Beute der Russen. Einmal hatte sie sich in höchster Not im letzten Moment mit Margret auf dem Arm in das Toilettenhäuschen auf dem Hof geflüchtet. Aber der Russe fand sie, trieb sie in die Scheune, und ich hörte ihr Schreien. Nie hat meine Mutter uns allein gelassen. Einmal forderte ein betrunkener Russe von einem alten Mann, der zwei Häuser weiter wohnte, eine Flasche Wodka. Er hatte natürlich keine. Da erschoß ihn der Russe. Nicht immer gab es bei diesen Gelegenheiten Terror: Eines Abends fuhr eine Gruppe Russen vor und kam in unser Haus. Wir fürchteten das Schlimmste. Aber die Russen teilten uns mit, einige sprachen deutsch, daß sie bei uns essen wollten. Wir mußten eine große Tafel herrichten, sie brachten ihre Vorräte herein, und wir mußten sie bedienen. Zum Schluß wurde Wodka getrunken und gesungen. Sie verabschiedeten sich höflich und fuhren ab; unter Zurücklassung aller Reste! Noch tagelang haben wir davon geschwelgt.
Die Phase des zügellosen Terrors der herumvagabundierenden Russen dauerte bis Anfang August, so denke ich. Die Besitzer der Häuser kehrten nun zurück, und wir mußten enger zusammenrücken. Daß wir diese Phase alle lebend überstanden haben, ist vor allem der Stärke und der Kraft meiner Mutter zu verdanken. Immer wieder hörte man, daß ganze Familien zusammen Selbstmord begangen hatten: An einem schönen Sommertag, wohl Ende Juli, hielten russische Lastwagen in unserer Straße. Alle irgendwie arbeitsfähigen Leute wurden aufgeladen, von unserer Familie meine Mutter und ich. Wir wurden mit unbekanntem Ziel abtransportiert. Meine Geschwister blieben fassungslos zurück. Doch die Fahrt dauerte nicht lange. Sie führte zur nahen Leba-Brücke, die Ende des Krieges gesprengt und von den Russen durch eine Behelfs-Holzbrücke ersetzt worden war. Als wir abgeladen wurden, sahen wir, dass sich an den Holzstreben der Brücke Leichen verfangen hatten, die offenbar flussabwärts getrieben waren. Die Leichen waren aufgedunsen und teilweise schon in Verwesung übergegangen. Ein süsslicher Leichengeruch verpestete die Gegend. Die Russen forderten uns auf, die Leichen aus dem Wasser zu ziehen und zu begraben. Das geschah dann auch: Ein großes Grab wurde gegraben und Seile an die Füsse der Toten gebunden. Dann zogen wir sie aus dem Wasser. Dabei stellte sich heraus, daß meistens eine Frau mit mehreren Kindern zusammengebunden war. So waren sie offenbar in den Fluß gegangen. Ein alter Mann ordnete die Leichen im Grab, so daß wenigstens alle Köpfe an einem Ende lagen. Viele mußten sich übergeben. Ein Russe lachte darüber und sagte: „Deutsche werden doch wohl deutsche Frauen und Kinder begraben können.“ Jahrzehnte später bin ich über die Brücke gefahren. Immer noch packte mich das nackte Grauen, als ich auf die Stelle des Grabes sah. Wir hatten großes Glück, daß wir nicht an Krankheiten gestorben sind: Relativ harmlos waren noch die vielen Geschwüre, die, offenbar durch die einseitige Ernährung und den Hunger, an allen Stellen des Körpers, vor allem aber zwischen den Fingern, auftraten. Die Geschwüre eiterten zum Teil stark. Natürlich hatten wir keine Salbe und kein Verbandsmaterial. Mit alten Kleiderfetzen wurde verbunden. Eine alte Frau riet uns, Blätter des Breitwegerichs aufzulegen. Das war ein guter Rat: Am nächsten Morgen hatte der Breitwegerich den Eiter aufgesogen und war vertrocknet. Wenn man das mehrere Tage machte, heilten die Geschwüre.
Eines Tages, es muß im Juli gewesen sein, bekam Reinhard hohes Fieber. Sein ganzer Körper bedeckte sich mit rosa Flecken. Schon bald verlor er das Bewußtsein und phantasierte nur noch laut vor sich hin. Die Diagnose war sogar mir klar, schon viel hatten wir darüber gehört. Er hatte Fleck-Typhus, und das war fast das sichere Todesurteil. Meine Mutter und ich liefen zur Kommandantur, um den Sanitätsoffizier zu suchen, von dem wir glaubten, daß er eventuell noch helfen könnte. Wir fanden ihn in Begleitung einer deutschen Krankenschwester. Meine Mutter faßte sich ein Herz und trat auf ihn zu. Ich hörte von ferne mit. Meine Mutter schilderte Reinhards Krankheit und bat ihn zu helfen. Die Krankenschwester übersetzte. Da wollte er sich abwenden. Da fiel meine Mutter auf die Knie und flehte ihn nochmals an. Brüsk wandte er sich ab und ging. Völlig verzweifelt gingen wir nach Hause zu Reinhards Bett. Da sahen wir den Offizier auf dem Fahrrad am Fenster vorbeifahren. Nach zwei Stunden kam er wieder zurück. Er war völlig durchgeschwitzt, da es sehr heiß war. Offenbar war er in Lauenburg gewesen. Er brachte Pulver in kleinen braunen Tütchen und zeigte meiner Mutter auf seiner Uhr die Zeiten, wann Reinhard sie bekommen sollte. Das war die Rettung. Langsam, ganz langsam wurde er gesund. Die Krankenschwester erzählte uns später, daß der Offizier Jude sei und alle seine Angehörigen von den Deutschen umgebracht worden seien. Besonders zwei Russen erkundigten sich immer wieder nach Reinhards Genesung. Das waren Iwan und Klaus.
Die Russen hatten auf den weiten Wiesen der Leba-Niederung vor unserem Haus alle Pferde der Umgebung zusammengetrieben. Später wurden die Pferde dann geschlossen abtransportiert. Iwan und Klaus waren gewissermaßen Horse-Boys, sie hatten auf die Pferde aufzupassen. Da sie sehr kinderlieb waren, hatten sie schnell mit uns Freundschaft geschlossen. Sie setzten uns auf die Pferde und ließen uns reiten. Reinhard hatten sie besonders gerne, sie nannten ihn Kommandant. Als er krank war, fragten sie immer wieder nach ihm: „Kommandant, immer noch krank?“ Einmal brachte Iwan ihm in einem Tütchen seine Zuckerration, dunkelbrauner zerstoßener Kandiszucker, und wünschte alles Gute. Einmal ging ich mit meiner Mutter nach Lauenburg. Es sollte anscheinend etwas für Reinhard eingekauft werden. Frau Lietzow gab uns zwei Oberhemden von ihrem verstorbenen Mann mit.
Ich war völlig überrascht, auf den Straßen der Stadt reges Leben und offene Geschäfte vorzufinden. Alles war aber polnisch. Lauenburg hieß nun Lebork. Auf dem Bahnhof fuhren Züge ab, und die Schaffner trugen polnische Uniformen mit dem charakteristischen polnischen Käppi. Wir verkauften die Oberhemden in einem Geschäft für je 25 Zloty und kauften dafür das Gewünschte ein. Vier Zloty blieben übrig. Dafür kauften wir zwei Bonbons für Reinhard.
Im Juli besserte sich die Ernährungslage, denn das erste Getreide auf den Feldern wurde reif. Es wurde mit Sensen und Sicheln geschnitten, da keine Pferde oder Trecker für die Erntemaschinen mehr da waren. Anschließend wurde das Getreide mit dem Dreschflegel auf der Tenne ausgedroschen. Auch ich lernte das Dreschen mit dem Dreschflegel. Dabei befand sich am Ende einer Stange ein beweglich angebrachtes schweres Holzstück, das in rotierende Bewegung zu versetzen war und rhythmisch auf die Garben aufschlug. Mein Lohn war etwas Getreide. Bis dahin waren wir in Mackensen von allen Nachrichten abgeschnitten, nur Gerüchte gab es in Fülle. Oft hörten wir Kanonendonner. Dann hieß es regelmäßig: Die Deutschen kommen wieder. Aber schon Anfang Mai, so denke ich, war einmal ein betrunkener russischer Offizier mit einem krummen Säbel auf unseren Hof geritten gekommen und hatte immer wieder gerufen: Woina kaputt (der Krieg ist aus). Einmal erzählte uns eine Frau, daß sie in Lischnitz, dem 3 km entfernten Dorf an der Hauptstraße, einen Gottesdienst besucht hätte. Der Pfarrer hätte, wie es damals üblich war, auch Suchmeldungen verlesen; auch, daß ein Walter Teschke seine Frau und vier Kinder suche. Welch unglaublicher Zufall! Da wußten wir, daß mein Vater den Krieg überlebt haben mußte. Eines Tages, wohl im Juni, marschierte ein langer Zug deutscher Kriegsgefangener durch unsere Straße. Vor unseren Häusern machten sie eine Pause, und wir gaben ihnen Wasser zu trinken. Ein Soldat setzte sich zu uns an die Pumpe, und wir erzählten ihm, wie es uns ergangen sei. Er war sehr überrascht und sagte, daß sie von den Russen gut behandelt worden seien. Auch sei ihm nie etwas weggenommen worden. Zum Beweis zeigte er uns seine Uhr. Eines Tages, wohl im September, kam der neue polnische Bürgermeister mit einer Gruppe junger polnischer Männer, sie waren aus Galizien. Er wies jedem Polen einen Hof als Eigentum zu. Wie zum Beweis der neuen Besitzverhältnisse mußte unser Nachbar, der alte Tischlermeister Domröse, aus Holz neue Hausnummern anfertigen und an den Häusern anbringen. Frau Lietzow versuchte gleich, mit „ihrem“ Polen zusammenzuarbeiten. Vor allem wollte sie Wintergetreide aussäen, um, wie sie sagte, „nächstes Jahr eine Hungersnot zu verhindern“, aber ihr Pole hatte von Landwirtschaft keine Ahnung. So wurde nichts ausgesät, und da das überall so war, kam die Hungersnot 1946, wie ich hörte, tatsächlich. Dafür organisierte Frau Lietzow selbst, daß der Torfvorrat für den Winter erneuert wurde. Dabei habe ich mitgeholfen: In der Leba-Niederung gab es ein Gebiet, das stark vertorft war. Dort hatte Frau Lietzow eine kleine Wiese, auf der jedes Jahr Torf gestochen wurde. Sie engagierte zwei alte Männer, die gegen Lebensmittel die schwere Arbeit des Torfstechens übernahmen. Mit einem speziellen Winkeleisen wurden prismatische Stücke mit quadratischer Grundfläche herausgeschnitten. Die Grube wurde bis zu zwei Meter tief. Zum Schluß enthielten die Torfstücke viel Wasser, und es war sehr schwer, sie aus der Grube herauszuheben. Wir Kinder schichteten die Torfstücke zu kleinen Haufen, aber so, daß sie gut trocknen konnten. Etwas Essen haben wir auch dafür bekommen. Es wurde nun langsam Herbst, und es gab immer mehr Gerüchte, dass das Land nun polnisch wäre und wir, die Flüchtlinge, abtransportiert werden sollten. Zunächst aber bekam Margret, die bisher alle Strapazen erstaunlich gut überstanden hatte, eine kleine Eiterbeule auf dem Kopf. Das beunruhigte uns nicht weiter. Wir legten wie üblich Wegerich auf, und da die Stelle schlecht zu verbinden war, setzten wir ihr des Nachts eine Mütze auf. Der Wegerich half aber dieses Mal nicht. Statt dessen wuchs und wuchs die Beule und wurde ganz gelb, bis sie tatsächlich Faustgröße erreichte. Margret trug nun ständig eine Mütze, schon um die Beule zu verbergen. Wir hatten alle große Angst um Margret. Meine Mutter fürchtete, daß der Eiter in das Innere des Kopfes eindringen und Schlimmes anrichten würde. Aber plötzlich hörte das Wachsen der Beule auf, und ganz allmählich schrumpfte sie. Auf der großen gelben Kreisfläche ihres Kopfes wuchsen noch lange keine Haare.
Abtransport aus Pommern Gegen Ende September wurde meine Mutter ernstlich krank. Sie bekam hohes Fieber und starke Halsschmerzen. Das hatte sie manchmal schon in Riesenburg gehabt. Frau Lietzow pflegte sie und kümmerte sich um uns. Ein paar Tage später, am 7.10., wurden wir Flüchtlinge aus dem nunmehrigen Polen ausgewiesen. Wegen der Krankheit meiner Mutter wurde uns eine Woche Aufschub gegeben. Obwohl danach meine Mutter immer noch krank war und weiter hohes Fieber hatte, wurden wir mit unseren wenigen verbliebenen Habseligkeiten nach Lauenburg zum Bahnhof gebracht. Das geschah am 13.10. Es war schon empfindlich kühl, so daß wir wieder unsere Wintersachen anziehen mußten. Eine alte Frau half uns mit ihrem Handwagen am Bahnhof. Da kam plötzlich ein polnischer Junge angelaufen, nahm ihr den Handwagen weg und lief mit ihm davon. „Wir sind hier jetzt völlig rechtlos“, sagte resigniert die Frau zu meiner Mutter. Der Transport erfolgte mit Personenwagen. Unterwegs wurde unser Zug von einer polnischen Räuberbande überfallen. Ich stand am Fenster und konnte alles gut beobachten. Als der Zug in einer Kurve langsam fuhr, sprangen die Räuber auf und verteilten sich auf die Abteile. Zwei Räuber kamen in unser Abteil, einer drohte mit einer Pistole, der andere stopfte alles nur Brauchbare in Säcke. Meine Mutter zwangen sie, ihren Wintermantel auszuziehen. Vor Fieber zitternd, saß sie nun auf ihrem Platz. In einer weiteren Kurve sprang der eine Räuber mit einem Sack ab. Dann hielt plötzlich der Zug, und polnische Miliz stieg ein. Der andere Räuber setzte sich mit seinem Sack zwischen uns, um ganz unauffällig zu wirken. Der durchkommende Milizoffizier fragte uns, ob wir irgendjemanden Fremden gesehen hätten. Niemand sagte ein Wort, aus Angst vor der Rache der Räuber. Da faßte sich meine Mutter ein Herz und zeigte dem Offizier den Räuber. Er wurde abgeführt, und die Leute erhielten ihre Sachen zurück. Aber der Mantel meiner Mutter war in dem anderen Sack. Kurz vor der Oder hielt der Zug, und wir mussten aussteigen und den restlichen Weg über die Oderbrücke bis zum nächsten deutschen Bahnhof zu Fuß gehen. Dabei trafen wir eine Frau aus Riesenburg. Sie hatte gerade ihr Kind, das in dem Zug gestorben war, auf dem Acker begraben.
Fahrt nach Berlin Wir fuhren dann bis Neubrandenburg. Meine Mutter glaubte, in dem Dorf Zirzow ihre Mutter zu finden. Die Stadt Neubrandenburg machte einen gespenstischen Eindruck. Ein Teil der Häuser war zerstört, bei einem anderen Teil waren die Eingangstüren mit Brettern vernagelt. Es hieß, das wäre wegen der Seuchen notwendig; Typhus ginge um. Zirzow liegt 10 km von Neubrandenburg entfernt. Wir liefen zunächst auf einer Hauptstraße und bogen dann in eine Nebenstraße ab. In Zirzow sagten uns die Leute, daß meine Großmutter dagewesen, aber längst wieder weitergezogen wäre (wie sich herausstellte, vor fast einem halben Jahr). Darauf entschloß sich meine Mutter, die Schwester ihrer Mutter, Tante Klara, in Berlin aufzusuchen. Uns graute vor dem Rückweg nach Neubrandenburg. Aber auf der Hauptstraße hielt ein Russe mit seinem Lastwagen und nahm uns bis zum Bahnhof mit. Unser Elend muß ihn gerührt haben. Auf dem Bahnhof hieß es, es sollte bald ein Zug nach Berlin kommen. Aber erst nach ein paar Stunden kam er. Er war völlig überfüllt. Die Menschen standen draußen auf den Trittbrettern und saßen oben auf den Dächern. Zwei Mal liefen wir erfolglos den Zug auf und ab. Dann hatten wir wieder einmal Glück: Aus dem Fenster eines Abteils sah ein russischer Offizier mit seiner Frau. Sie ließen nur Leute ins Abteil, die ihnen gefielen. Der Frau gefiel Margret in ihrem weißen finnischen Eisbärmantel. Da durften wir alle einsteigen und hatten reichlich Platz aber einen furchtbaren Hunger, da wir lange nichts gegessen hatten. Das Offiziersehepaar hatte auch eine vornehme alte Dame ausgesucht. Sie fing an zu essen. Wir umstanden sie mit offenem Munde. Durch den Hunger habe ich mir alles gemerkt: Zuerst breitete sie ein weißes Tuch auf die Bank. Dann holte sie aus der Tasche zwei Weißbrotstullen. Die eine bestrich sie mit herrlicher Konfitüre und aß sie langsam auf. Dann bestrich sie die andere Stulle mit Leberwurst und aß sie noch langsamer auf. Dann packte sie alles sorgfältig ein und legte zum Schluß das zusammengefaltete Tuch in die Tasche. In Berlin waren furchtbare Zerstörungen, es gab kaum noch eine intakte Brücke. Der S-Bahn-Verkehr war aber auf einigen Strecken wiederaufgenommen worden, so auch auf der Strecke nach Wannsee. An dieser Strecke lag Steglitz, wo meine Tante in der Bismarckstraße 42 wohnen sollte. Als wir nach der Bismarckstraße fragten, sagte man uns, wir sollten bei der Station Feuerbachstraße aussteigen. Beinahe hätten wir zum Schluß noch Willfried verloren, denn er schaffte es nicht, mit uns aus dem überfüllten Abteil auszusteigen. Verzweifelt liefen wir zum Stationsvorsteher. Der aber organisierte, daß Willfried gleich mit dem nächsten Zug, neben dem Fahrer sitzend, wieder zu uns zurückkam. An der Station Feuerbachstraße begann die Bismarckstraße mit der Nummer 1. Es war eine einzige Trümmerwüste, kein Haus stand. Immer langsamer schleppten wir uns vorwärts. Das erste Haus, das unzerstört war, war die Nummer 42. Später sagte meine Mutter, sie hätte keinen Schritt mehr weiter gekonnt. Tante Klara war zu Hause, sie hatte eine große Wohnung. Sie wußte, daß mein Vater uns zu dieser Zeit in den Flüchtlingslagern um Wismar suchte. Sie telegraphierte ihn herbei. Er kam und brachte einen Rucksack mit Kartoffeln und zwei Schwarzbrotstullen mit.
Wir fielen uns in die Arme. Unsere Flucht war zu Ende.
Mein Vater Mein Vater wurde zu Beginn des Krieges im September 1939 zur Wehrmacht eingezogen und kam zunächst auf den westlichen Kriegsschauplatz. 1940 wurde er „von der Heimat reklamiert“, d.h. er kam wieder nach Hause. 1943 wurde er erneut eingezogen und kam dieses Mal nach Finnland, nach Rovaniemi am Polarkreis. Ende 1944 schloß Finnland nach schweren Niederlagen einen Waffenstillstand mit der Sowjetunion. Russische Bedingung dafür war der sofortige Abzug oder die Internierung der deutschen Truppen in Finnland. Als Folge davon kam es in Rovaniemi zu Kämpfen zwischen den einstigen Verbündeten mit Tausenden Toten. Rovaniemi wurde dabei vollständig zerstört. Ich habe Anfang der neunziger Jahre den Soldatenfriedhof in Rovaniemi zusammen mit meinen Geschwistern besucht. Mein Vater kam mit dem Leben davon, die deutschen Truppen zogen sich nach Norden über Norwegen nach Deutschland zurück. So kam mein Vater im Januar 1945 nach Hamburg, was er uns telefonisch mitteilte. Um den 20.1. bekam er eine Woche Urlaub und fuhr sofort nach Riesenburg. Unterwegs hörte er vom Räumungsbefehl für Riesenburg, die Flüchtlingsströme fluteten ihm entgegen. In Neustadt bei Danzig sah er in einem gegenüberliegenden Flüchtlingszug, der nach Westen fuhr, seine Mutter und seine Schwester Käthe. Er begrüsste sie kurz, setzte aber seine Fahrt nach Riesenburg fort. Bekannten, Herrn Niederbäumer, Herrn Glaser u.a., um Rat gefragt, was sie tun sollte. Niemand gab eine konkrete Antwort. Zum Schluß fragte sie unseren Polizisten, Herrn Lischek, und der sagte ihr leise im Vertrauen: „Frau Teschke, nehmen sie ihre Kinder und verlassen sie Riesenburg so schnell sie können“. Auf solche „defätistischen“ Äußerungen, noch dazu eines Polizisten, stand damals die Todesstrafe.
Meine Mutter lief zum Bahnhof und kaufte für den nächsten Tag Fahrkarten nach Berlin. Auf der Post überwies sie 1.000 Mark an Tante Klara in Berlin. Zu Hause packte sie unsere wichtigsten Sachen in Kisten, die sie von Herrn Glaser kommen ließ; ohne daß sie wußte, wie sie abtransportiert werden sollten. Am Abend aber wurde der zivile Zugverkehr eingestellt, und die große Chance war vorüber. Als mein Vater am 22. oder 23.1. in Riesenburg eintraf, fand er die Stadt menschenleer und sah, dass er einen Tag zu spät gekommen war. Er nahm unser Auto, lud einen Teil der Kisten ein und fuhr gen Westen. Als er kein Benzin mehr hatte, ließ er sich von Wehrmachtsfahrzeugen abschleppen, fuhr aber dabei bei eisglatter Fahrbahn mehrfach in den Straßengraben. In Dramburg/Pommern übergab er Auto und Kisten dem ihm offenbar bekannten Getreidehändler Carl Rissmann. Er fuhr mit dem Zug weiter und erreichte Hamburg noch vor Ablauf seines Urlaubs.
Das Kriegsende erlebte er in Lübeck. Dort konnte er sich durch geschickte Manöver, er besorgte sich Zivilsachen und arbeitete als angeblicher Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft, der Gefangenschaft entziehen. Sein Kommentar dazu war immer: „Ich hatte keine Zeit, in Gefangenschaft zu gehen, ich musste meine Familie suchen.“ Und das tat er dann auch. Einige Lebenszeichen von uns hatte er: Meine Mutter hatte von allen Stationen unserer Flucht, also aus Dreidorf und Miruschin, Briefe mit genauen Schilderungen an ihre Verwandten nach Berlin und Hamburg geschrieben. Alle Briefe sind tatsächlich angekommen. Den letzten Brief hatte sie noch wenige Tage vor Ankunft der Russen geschrieben. Darin teilte sie auch mit, daß sie ihre Wertsachen dem Bauern Jarmulewski übergeben hätte, damit er sie für sie verstecken sollte. Als mein Vater nach dreimonatigem Suchen feststellen mußte, dass wir nirgends im Westen angekommen waren, faßte er den gefährlichen Entschluß, sich nach Riesenburg durchzuschlagen und unsere Fluchtroute abzusuchen, um zu sehen, wo wir geblieben wären. Was das zur damaligen Zeit an Mut, Entschlossenheit und sogar Todesverachtung bedeutete, kann nur ermessen, wer das damalige Chaos miterlebt hat. Anfang Juli machte er sich auf den Weg. Es gab weder zivilen Bahn- noch Autoverkehr, um die 800 km lange Strecke zu überwinden. Er versteckte sich in Zügen und Lastautos der Amerikaner, Briten und schließlich der Russen, immer in der Gefahr, entdeckt und kurzerhand erschossen zu werden. Problematisch war vor allem das Überwinden von Oder und Weichsel, deren Brücken scharf bewacht wurden. An der großen Weichselbrücke in Dirschau hat er sich das eine Mal als Monteur verkleidet und mit einem großen Schraubenschlüssel eine Brückenreparatur vorgetäuscht. In Riesenburg angekommen, raf er eine bekannte Familie, die ihm berichtete, daß wir nicht nach Hause zurückgekommen waren. Die Rückroute gestaltete er nach unserem Fluchtweg. Zuerst kam er tatsächlich zur Familie Ossowski nach Dreidorf, dann zur Familie Jarmulewski nach Brünhausen/Miruschin. als er unsere Wertsachen zurückforderte, sagte ihm der Bauer, daß die Russen sie ihm weggenommen hätten. Überall auf seiner weiteren Route nach Westen hinterließ er in Kirchen und an anderen Gebäuden Nachrichten. Das geschah auch in der Kirche in Lischnitz, wovon wir zufällig hörten. Nur 3 km entfernt ist er bei uns vorbeigekommen. Wie durch ein Wunder wieder gut im Westen angekommen, durchsuchte er seitdem systematisch alle Flüchtlingslager nach Nachrichten über uns. Als wir bei Tante Klara in Berlin ankamen, war er gerade in den Lagern um Wismar.
Die militärische Lage während unserer Flucht Am 12. Januar 1945 begann die Rote Armee aus dem Weichsel-Brückenkopf Baranow bei Warschau ihre Winteroffensive. Die deutsche Abwehrfront wurde in wenigen Tagen vollständig zerschlagen. Die Hauptstöße (Armeegruppen von Schukow und Konjew) richteten sich nach Westen. Bereits am 30.1. wurde die Oder bei Küstrin erreicht und Brückenköpfe auf dem westlichen Ufer errichtet.
Ein weiterer Stoßkeil (Armeegruppe Rokossowski) richtete sich nach Norden. Er erreichte am 28.1. das Frische Haff bei Elbing und durchschnitt alle Landverbindungen von Ostpreußen nach Westen. Er trennte die deutsche 4.Armee (General Hoßbach), die in Ostpreußen verblieb, von der deutschen 2.Armee (Generaloberst Weiß) im Westen. General Hoßbach versuchte auf eigenen Faust, mit seiner 4.Armee und mit Flüchtlingstrecks nach Westen durchzubrechen. Der Angriff wurde vom Führerhauptquartier gestoppt, General Hoßbach abgesetzt und durch General Rendulic von der Kurlandarmee ersetzt. Für die Flüchtlinge aus Ostpreußen verblieb nunmehr als einziger Fluchtweg zu Lande der Marsch über das Eis des Frischen Haffs und weiter über die Frische Nehrung nach Danzig oder Hela, da sogar noch bis zum 9.Mai ein kleiner Brückenkopf im Weichseldelta gehalten wurde. Bei dem russischen Vorstoß nach Norden wurde der Regierungsbezirk Marienwerder mit Riesenburg und Stuhm am 23. und 24.1. besetzt. Der Räumungsbefehl für Riesenburg am Sonnabend dem 20.1. erfolgte viel zu spät, die Evakuierung der am meisten gefährdeten Mütter und Kinder in den Kreis Preußisch-Stargard in der westlichen Weichselniederung war angesichts der militärischen Lage ohne Sinn. Die Front verlief nunmehr einen Monat lang ungefähr vom Frischen Haff entlang der Nogat und der Weichsel bis nördlich von Graudenz (die Stadt war eingeschlossen und zur Festung erklärt worden) und von dort westwärts bis zur Oder. Dabei muß der Eisenbahnknotenpunkt Dirschau an der Weichsel noch in deutscher Hand gewesen sein, denn um den 12.2. erfolgte unser Weitertransport von Dreidorf-Preußisch-Stargard über Dirschau und weiter über Danzig und Gotenhafen nach Putzig/Strellin. Im Führerschein meiner Mutter ist unsere Anmeldung in Strellin am 14.2. vermerkt. Am 26.2. begann die Rote Armee (Armeegruppen von Schukow und Rokossowski) ihre Offensive zur Eroberung von Hinterpommern. Längs der Front von der Weichsel bis zur Oder wurde nach Norden gestoßen und die Ostseeküste zwischen Wolin und Rixhöft überall bis zum 10.3. erreicht. Der Angriffstermin am 26.2. war offenbar der Grund für unseren Abtransport von Putzig nach Westen Anfang März, der wahrscheinlich genau einen Tag zu spät erfolgte, weil die Rote Armee gerade zu dieser Zeit die Eisenbahnlinie Putzig-Lauenburg-Stolp-Stettin in Höhe Köslin/Kolberg eroberte. Ein Teil der russischen Kräfte (Armeegruppe Rokossowski) schwenkte nach Osten, um die Westküste der Danziger Bucht mit den großen Versorgungshäfen Gotenhafen und Danzig zu erobern. Diese Küste wurde am 28.3. erreicht, wobei sich die Oxhöfter Kämpe (ein Höhenzug nördlich von Gotenhafen) bis zum 5.4. halten konnte. Vorher gelang es aber noch, die Mehrzahl der Flüchtlinge aus diesem Raum (Größenordnung eine Million) über die Ostsee nach Schleswig/Holstein, Dänemark und Swinemünde abzutransportieren.
Nach Beginn der russischen Offensive und dem für die Wehrmacht katastrophalen Verlauf entschloß sich der Oberbefehlshaber der nunmehr eingekesselten 2.Armee, Generaloberst Weiß, zu einer planmäßigen Verkleinerung des Kessels. Dazu befahl er eine Absetzbewegung seiner Truppen aus dem Raum Preußisch-Stargard und Karthaus nach Norden. Ziel war der Aufbau einer neuen Front, die an der Ostseeküste westlich des Fußes der Halbinsel Hela einsetzte, um den äußeren Verteidigungsring der „Festung“ Gotenhafen-Danzig herumlief und mit ihrem linken Flügel das Frische Haff südlich Stutthof erreichte. Diese dünne neue Front muß auch den Raum Miruschin-Brünhausen umfasst haben. Während es damit gelang, die Hafenstädte bis zum 28.3. zu halten und den Abtransport der Flüchtlinge und auch eines Teils der Soldaten vorzunehmen, brachen die Russen nördlich von Neustadt, also auch im Raum Miruschin-Brünhausen, zur Ostsee durch, so daß unser vorgesehener Abtransport nach Gotenhafen nicht mehr gelang. Im Juli 1945 fand in Potsdam die Konferenz der „Großen Vier“ statt. Im „Potsdamer Abkommen“ wurde festgelegt, die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße unter polnische und, im Falle des nördlichen Ostpreußen um Königsberg, unter sowjetische „Verwaltung“ zu stellen. Daraus erklärt sich dann auch die von mir beobachtete Polonisierung der Stadt Lauenburg im August und die ab September vorgenommene Verteilung der Bauernhöfe an polnische Aussiedler aus Galizien.
Was aus uns geworden ist Nach nur wenigen Tagen in Berlin, es gab dort damals strenge Aufenthaltsbeschränkungen für Flüchtlinge, zog unsere nun vollständige Familie weiter nach Westen in die Altmark, fast bis vor die Tore von Wolfsburg, aber leider auf die „falsche“ Seite. Dort sind mein Vater 1972 und meine Mutter 1989 verstorben. Meine Schwester Margret absolvierte die Buchhändlerschule in Leipzig und arbeitet seitdem in der Erich-Weinert-Buchhandlung in Magdeburg. Mein Bruder Reinhard studierte Betriebsingenieurwesen an der Technischen Hochschule Dresden und war dann Direktor eines mittleren Betriebes des Feingerätebaus in Kelbra am Kyffhäuser. Nach der Wende wurde er zum Bürgermeister von Kelbra gewählt. Mein Bruder Willfried studierte Bauingenieurwesen, ebenfalls an der Technischen Hochschule Dresden. Er arbeitete anschließend als Bauleiter und danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Hochschule Leipzig. Nach der Wende wurde er zum Professor an die Fachhochschule Nürnberg berufen. Der Verfasser dieses Berichts studierte Mathematik und Physik an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, wurde Lehrer an der Oberschule in Zeitz und 1961 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule Halle. 1981 stellte er einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik Deutschland, überstand die Maßnahmen der DDR-Sicherheitsorgane und siedelte nach Hamburg über, wo er an einem Gymnasium unterrichtete. 1989 wurde er zum Professor an die Fachhochschule Hamburg berufen. Nach der Wende war er Berater der Landesregierung von Sachsen-Anhalt und Gründungsrektor der Fachhochschule Merseburg.
Diesen Bericht widme ich meinen Eltern.
Ihr selbstloser Einsatz für ihre Kinder in dem Schicksalsjahr 1945 nötigt mir immer wieder die größte Hochachtung ab. Das gilt vor allem für den Mut und die Tapferkeit meiner Mutter, ohne die ich schon mit 8 Jahren gestorben wäre.