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Leben in einer Diktatur

Vom Hauptbahnhof in Halle an der Saale fuhren die Interzonenzüge immer vom Bahnsteig 12 ab. Eine Bekannte von uns brachte ihren Westbesuch, eine ältere Dame, am Ende des Besuchs wieder zum Bahnhof. Das waren die Abschiedsworte durch das geöffnete Zugfenster:  „Gertrud, wie ihr hier nur leben könnt. Ich könnte hier nie leben.“ Sprach’s und fuhr gen Westen.

Auch diese Szene zeigt, warum sich Ost- und Westdeutsche  nach dem Wunder der deutschen Einheit nie werden ganz verstehen können: Den Westdeutschen fehlen die Erfahrungen einer Diktatur. Und die eigentlich gemeinsame Nazidiktatur wurde entweder nicht mehr erlebt oder zu schnell verdrängt und vergessen.
Die äußeren Daten der Entwicklung vor und nach der Wende 1989 sind oft und hinreichend beschrieben worden. Wir wollen uns einem anderen und vielleicht wichtigeren Aspekt zuwenden: Wie denkt und fühlt ein Mensch eigentlich, wenn er in einer Diktatur leben muß?

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In einer Diktatur, gleich welcher Art, muß man sich entscheiden: Entweder man gehört zu den „Einen“, den Mächtigen, oder man gehört zu den „Anderen“, auf deren Kosten die „Einen“ leben und herrschen.
Die Mächtigen, wenngleich mit allen Machtmitteln versehen, können alleine nicht herrschen, weil es zu wenige sind, um diese Mittel zu gebrauchen. Sie benötigen Helfer und Helfershelfer. Es ist erstaunlich und lässt tief in die menschliche Seele blicken, dass sie diese Helfer noch in jeder Diktatur gefunden haben. Die Helfer wurden nicht zuletzt in der DDR-Diktatur gebraucht, obwohl hier sogar die äußere Macht durch die Rote Armee der Mutter-Diktatur in der Sowjetunion garantiert wurde.

In jeder Diktatur existiert eine herrschende Partei, in der DDR war das die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), dort offiziell und verklärend als „Avantgarde“ oder „bewusster Vortrupp der Arbeiterklasse“ bezeichnet. Die Entscheidung für oder gegen eine Mitgliedschaft in dieser Partei ist in der Regel der  entscheidende Test, ob man zu den „Einen“ oder den „Anderen“ gehören will.
Von den über zwei Millionen Parteimitgliedern in der DDR zur Zeit der Wende, wie auch früher von den über 12 Millionen am Ende der Nazidiktatur, sagen heute viele, dass sie in die Partei gehen „mussten“. Das ist nicht wahr.
Wahr dagegen ist, dass die Nichtmitgliedschaft bedeutete, auf Privilegien materieller und nichtmaterieller Art zu verzichten.
Wahr dagegen ist, dass bei Werbung die Weigerung, Mitglied zu werden, von der Partei als Feindschaft gegen das System und ihre Herrschaft gedeutet wurde und dass das für die Verweigerer in der Regel auch zutraf.
Wahr dagegen ist, dass infolgedessen Mut dazu gehörte, einem Werbungsversuch, mit welchem Abwehrmittel auch immer, zu widerstehen, und sich somit indirekt als Feind zu demaskieren.
Wahr ist aber auch, dass nicht bekannt geworden ist, dass jemand wegen eines gescheiterten Werbungsversuchs ins Gefängnis musste oder ähnliche Repressalien zu spüren bekam.
Wahr dagegen ist leider auch, dass die meisten Helfershelfer freiwillig um Aufnahme in die Partei gebeten haben. Es musste in der DDR zeitweise sogar ein Aufnahmestop verhängt werden, und das aus den unterschiedlichsten Gründen: Manchmal, um den formalen Anteil der „Arbeiter“ nicht zu sehr sinken zu lassen; manchmal sogar, um allzu moralisch Verkommenen den Weg in die Partei zu versperren.
Insgesamt ist festzustellen, dass die Einteilung in die „Einen“ und die „Anderen“, in der DDR sprach man von „Genossen“ und „Nichtgenossen“, eine tiefere Spaltung der Gesellschaft verursachte als jede soziale Schichtung, zumal sich jeder Genosse darüber im klaren war, dass die gewährten Vorteile in der Regel nicht seinen Leistungen, sondern seiner vorgeblichen Gesinnung entsprachen. Das erklärt auch, dass die über zwei Millionen Parteimitglieder und ihre Familien, insgesamt also über fünf Millionen Menschen, ein materielles und ideelles Interesse am Fortbestehen der DDR hatten, und heute zum großen Teil den Nährboden für  die kommunistische Nachfolgepartei im jetzigen Deutschland bilden.
Um welche Privilegien handelte es sich dabei speziell in der DDR? Jeder Genosse war zunächst handelndes Mitglied des Herrschaftssystems, auf welcher Stufe auch immer. Er konnte in den Parteiversammlungen und anderen Parteizirkeln Einfluß nehmen zum Beispiel auf die Berufskarrieren von sich selbst und von anderen, vor allem von Nichtgenossen, er konnte eben Macht ausüben. Das traf sogar auf jeden „einfachen Arbeiter“ zu, der in der Partei war. Das allein schon führte zu völlig ungerechtfertigten Bevorzugungen oder Benachteiligungen. Häufig gebrauchtes Argument für letzteres waren „ideologische Unklarheiten“; etwa wenn der Betroffene nicht ganz systemkonforme Meinungen geäußert oder ein engeres Verhältnis zur Kirche hatte. Direkte Bestechung kam meist erst bei etwas höheren Chargen vor, wie Bevorzugung bei der Zuteilung von knappen Ressourcen, wie Wohnungen, Ferienplätzen und „langlebigen Konsumgütern“, aber auch der Zugangsberechtigung zu bevorzugt mit Westwaren belieferten  Läden.

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Wie orientiert man sich in einer derart gespaltenen Gesellschaft? Zog man zum Beispiel um, so war die erste Aktivität in der neuen Arbeitsstelle die Kenntnisnahme der  „Parteistruktur“: Wer ist Parteisekretär, wer ist in den Parteileitungen, wer ist in der unmittelbaren Nähe des neuen Arbeitsplatzes Genosse, wer nicht? Daraus resultierten das weitere Handeln und die aufzunehmenden Sozialkontakte. Zog man in eine Plattensiedlung, waren im Treppenaufgang die Mieter nach denselben Kriterien zu identifizieren. Der „ Hausvertrauensmann“ war schon eine sicherheitsrelevante Tätigkeit. Also war er meist in der Partei, oft genug bei den Sicherheitsorganen. Wie sich Ältere erinnern werden, gilt das alles sinngemäß auch für die braune Diktatur.

Eine Diktatur ist erst vollkommen, kann erst ihre ganze Brutalität entfalten, wenn sie totalen Zugriff auf die beherrschten Menschen hat. Deshalb gehört zu den ersten Maßnahmen nach der Machtübernahme die hermetische Schließung der Grenzen. In der DDR wurde dieses Stadium erst im August 1961 erreicht. Die Möglichkeit, der Diktatur vorher über Westberlin zu entfliehen, wurde von Millionen Menschen genutzt. Diejenigen, die blieben und nicht zum Herrschaftsapparat gehörten, hatten dafür die unterschiedlichsten Gründe: Einmal verlässt man nicht gerne seine gewachsene Heimat und gibt Freunde und alles materiell Erworbene auf. Zum anderen galt die Existenz der DDR bis zu diesem Zeitpunkt bei den meisten Menschen als vorläufig. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein derartig von Krisen aller Art geschütteltes System noch lange überleben würde, zumal der westdeutsche Staat blühte und gedieh. Entsprechende Gerüchte machten ständig die Runde und verführten zum Abwarten. Man konnte sich weiter nicht vorstellen, dass die Westmächte zulassen würden, dass Westberlin „zugemacht“ würde. Umso schlimmer war der Schock der Mauer. Seine Auswirkungen auf die Seele und das Gefühl der betroffenen Menschen sind bis zum heutigen Tage von den meisten Westdeutschen weder ganz begriffen, geschweige denn in irgendeiner Weise nachvollzogen worden. Hier liegt eine wesentliche Ursache bloß für alle Schwierigkeiten nach der Wende:
Da saß man nun in der DDR, eingesperrt und abgeschnitten von der Welt, ausgeliefert den Mächtigen. Es gab keine letzte Drohung mehr, wenn auch nur im Geheimen: Na, dann gehe ich eben.
Zuerst gab es das Triumpfgeheul der SED, das für sich schon kaum zu ertragen war. Verstärkt wurde diese Situation aber noch durch das Verhalten des Westens und seine Sorge um Westberlin. Bis zum letzten Tage hatten die Bundesbehörden und viele westliche Organisationen zum Bleiben in der DDR aufgefordert. Nun kamen hochrangige  Politiker in die Stadt, sogar der amerikanische Vizepräsident, und gaben Garantien ab. Aber eben nur für Westberlin. Die Menschen in der DDR waren abgeschrieben.
Das Urteil für sie stand fest: Lebenslänglich DDR. 12 Jahre hatten sie schon hinter sich. Es musste ihnen grauen, an die Zukunft zu denken. 

Sechs Tage vor der Mauer haben wir geheiratet. Hundert Meter vom Hauptbahnhof Halle entfernt feierte unsere Hochzeitsgesellschaft. Wir hatten uns beruflich neu orientiert und wollten gemeinsam ein neues Leben beginnen. Die politische Situation, die anschwellenden Flüchtlingszahlen, all das waren natürlich heiß diskutierte Themen. Sollten wir gehen oder nicht? Wir waren alle beisammen, noch an demselben Abend hätten wir in Westberlin sein können. Aber ein Bruder fehlte, er war in Bulgarien. Warten wir den noch ab!
So ähnlich ist es vielen gegangen.

Es wird gesagt und geschrieben, durch die Mauer habe die DDR die wirtschaftliche Stabilität erreicht, um nun gelassener und sanfter den Terror gegen die Menschen zu handhaben. Das stimmt nicht! Alle Konflikte der gespaltenen Gesellschaft hatten sich seitdem verschärft, nur musste die Reaktion der eingesperrten Menschen nun vorsichtiger sein.

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Die Spaltung der DDR-Gesellschaft in Herrscher und Beherrschte brachte es zwangsläufig mit sich, dass sich die „Einen“ durch besondere ideologische, die „Anderen“ durch entsprechende fachliche Leistungen profilieren mussten. Ideologische Leistungen waren aber wirtschaftlich nichts wert, man konnte sie „nicht essen“. Jede wirtschaftliche Entwicklung war im Prinzip von den Leistungen der „Anderen“ abhängig, die sich dieser Rolle manchmal auch durchaus bewusst waren. Diese Erkenntnis hat jede Diktatur gemacht. Ihr widmete LENIN nach der Oktoberrevolution seine „Lehre von den Spezialisten“. In dieser „Lehre“ wird den parteilosen Fachleuten wegen ihrer offenbar unverzichtbaren Leistungen eine gewisse Pflege zugedacht mit dem Ziel, ihr Potential so lange mit höchster Effektivität auszubeuten, bis man ihrer, wie ganz offen formuliert wurde, nicht mehr bedarf. Auch hier irrte der Genosse LENIN. Der erwünschte Zustand ist nämlich in keiner Diktatur je eingetreten, auch und gerade in der DDR nicht. Ständig gab es für die Partei Ärger mit den „Spezialisten“ und über die Formen der Unterdrückung, die auf sie anzuwenden waren.
Hier lag nun eine Chance für den einzelnen, sich im Leben der DDR-Diktatur wenigstens etwas zu behaupten. Zunächst war es sehr schwierig, selbst „Spezialist“ zu werden oder einem seiner Kinder den Weg dazu zu bahnen. Erste Hürde war das Abitur. In jeder infragekommenden Familie gab es ständige Auseinandersetzungen  über das noch zu vertretende Maß der dazu notwendigen Anpassung und ideologischen Scheinaktivitäten. Nichts ging auch hier ohne die Mithilfe der „Anderen“ unter den Lehrern. Aber für manche hochbegabte Kinder, zum Beispiel aus „feindlichen“ Pfarrersfamilien, war hier schon Endstation.
Dann war die Aufnahme eines Studiums zu erkämpfen. Oft war das nicht möglich, ohne eine zusätzliche zeitliche Verpflichtung für die Armee oder eine andere in erpresserischer Weise abgeforderte Leistung. Als Studiengang kam nur eine Naturwissenschaft oder ein technisches Fach infrage, individuelle Neigungen und Veranlagungen hatten zurückzustehen. Das war auch aus dem Grunde opportun, weil das Studium einer Geisteswissenschaft, in einer roten Diktatur verräterischerweise als „Gesellschaftswissenschaft“ bezeichnet, wegen der vollständigen ideologischen Durchdringung im Prinzip wertlos war.
Im Berufsleben gingen die Schwierigkeiten weiter: Wegen der in einer Diktatur stark eingeschränkten Wahl des Arbeitsplatzes war es nicht leicht, eine Tätigkeit zu finden, in der man seine Kenntnisse und Fertigkeiten zur Entfaltung bringen konnte. Trotzdem haben es „Andere“ in der DDR bis zum Technischen Direktor eines Kombinats oder zum Professor an einer Hochschuleinrichtung gebracht.
Insgesamt kann das Bildungssystem in einer Diktatur als Beispiel dafür dienen, dass viele Veranlagungen und Begabungen aus Gründen der reinen Machterhaltung nie oder nur unvollständig zur Entfaltung kommen. Das führt notwendigerweise zur geistigen Verarmung der Gesellschaft.

Nach KANT ist neben dem gestirnten Himmel über uns „das moralische Gesetz in uns“ eines der größten Wunder. Als Menschen wissen wir, was Recht und was Unrecht ist. So wissen auch die „Einen“ in einer Diktatur, dass ihre Herrschaft eine Unrechtsherrschaft ist. Dem begegnen sie, auch sich selbst gegenüber, mit dem „Argument“, dass die von ihnen aufzubauende neue Gesellschaft die gerechteste sein werde, die es je gab. Manchmal fügen sie hinzu: Vielleicht nicht gleich, man sollte sie nur gewähren lassen, dann würde man es schon sehen.
Dieser Anspruch führt zu der Fiktion, dass faktisch alle, von einigen fast Unzurechnungsfähigen einmal abgesehen, ihre Herrschaft bejahen, begrüßen, ja geradezu fordern müssten. Dieser Wahn führt in jeder Diktatur zu dem unstillbaren Bedürfnis der „Einen“, sich regelmäßig durch „Wahlen“  in ihrem Treiben bestätigen zu lassen. Die Fiktion der vollständigen Zustimmung erforderte nun aber, so hatte es sich in der DDR und anderen Diktaturen eingebürgert, eine Abweichung von Hundert Prozent lediglich in der ersten Dezimale hinter dem Komma. Als Methode der Zustimmung für ein solches Ergebnis galt das öffentliche Einwerfen des mit den „Kandidaten“ bedruckten Wahlzettels in die Wahlurne. Das war nach dem geltenden und nie geänderten Wahlgesetz der DDR , das geheime Wahlen vorschrieb, verboten, die Organisatoren der Wahl, also die „Einen“, hätten ins Gefängnis gemusst. Bis heute ist nicht bekannt, wie eine Gegenstimme bei einer solchen Wahl zu realisieren war: Durchstreichen einzelner Kandidaten, Durchstreichen des ganzen Wahlzettels, alles konnte als Zustimmung gewertet werden und wurde auch so gewertet. Früh musste man kommen, denn die Wohnbezirke wetteiferten, bis 10 Uhr gewählt zu haben. Am Eingang des Wahllokals konnte man einem Kinderchor begegnen, in dem vielleicht die eigenen Kinder sangen. Begleitet wurde dieses Theater von einer stupiden Propaganda, garniert mit dreisten Lügen: Daß man eben in dem schönsten und gerechtesten Staat lebe.  Man kann sich kaum einen würdeloseren Vorgang denken. Die erzwungene Teilnahme kam für „Andere“ einer tiefen Demütigung gleich. Nichtteilnahme an dieser „Wahl“ oder die Benutzung der „Wahlkabine“, in der Regel ein Tisch mit einem Pappaufsatz, wurden sofort den Betrieben gemeldet und mit Sanktionen belegt. Für Rentner bedeutete das den Ausschluß von der „Vergünstigung“, Verwandte im Westen besuchen zu dürfen.
Es muß leider ergänzt werden, dass die Wahlen 1936 in der braunen Diktatur eine über neunzigprozentige Zustimmung erbrachte, ohne dass die Menschen dabei nennenswert bedrängt worden wären. Das ist auch heute immer noch ein unfassbarer Vorgang.  

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Kaum ist eine Diktatur installiert, werden die sogenannten Sicherheitsorgane aufgebaut, die die Feinde der neuen Ordnung zu bekämpfen haben und Angst und Schrecken verbreiten und verbreiten sollen. Damit einher geht die fast vollständige Ausschaltung der meisten Rechtsnormen.
In der DDR geschah das unter dem Motto „Recht ist, was der Arbeiterklasse nützt“. Die Berufung auf Grundrechte wurde ersetzt durch das Eingabewesen; ein Bittstellerverfahren, das aus jedem Ständestaat des Mittelalters gut bekannt ist.
Es ist kein Wunder, dass sich die Sicherheitsleute aus der Sowjetunion und aus Nazi-Deutschland vor Ausbruch der Feindseligkeiten im Juni 1941 gut verstanden haben sollen. Geflüchtete Feinde wurden gegenseitig ausgeliefert, Erfahrungen in ihrer „Behandlung“ ausgetauscht. Bei der „Ausgestaltung“ der jeweiligen Lagersysteme wird es sicher viel Gesprächsstoff gegeben haben.
Nach der Wende 1989 in der DDR wurden die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit für die Menschen in Ost und West zum Feindbild schlechthin: Ganz zu Unrecht. Wie in jeder Diktatur, waren die Sicherheitsorgane „Schwert und Schild der Partei“. Das war eine der wenigen Losungen in der DDR, in denen nicht gelogen wurde. Erich HONECKER und Egon KRENZ waren die Vorgesetzten von Erich MIELKE, keinesfalls nur formal und auch de facto nicht umgekehrt. Der hochgelobte Hans MODROW war als oberster Parteifunktionär zu entscheidender Zeit Kommandeur aller Sicherheitsorgane im Bezirk Dresden und natürlich auch für die Knüppelaktionen seiner „Organe“ in der letzten Zeit der DDR verantwortlich.
Geschickt wurde abgelenkt von den eigentlich Verantwortlichen für die DDR und ihre Grausamkeiten. Sogar die meisten Menschen aus dem Osten interessierten sich mehr für die Listen der Sicherheitsleute als für die Mitglieder des Zentralkomitees und der anderen hohen Parteileitungen. Dabei waren diese doch „nur“ Ausführende der Weisungen der Partei. Nur zäh und mühsam lässt sich hier die Wahrheit ans Licht bringen.

Jeder Gefangene, der unschuldig eingekerkert ist, sinnt darüber nach, wie er aus dem Gefängnis ausbrechen, wie er ihm entfliehen kann. Nach der Abriegelung der Grenzen ging es in der DDR vielen Millionen so, viele Tausende haben den gewaltsamen „Mauerdurchbruch“ versucht, nur wenige waren erfolgreich. Dokumentationen zeigen den unglaublichen Erfindungsreichtum der Menschen, um der DDR zu Lande, zur See oder in der Luft zu entkommen. Viele bezahlten den Versuch, in die Freiheit zu kommen, mit ihrem Leben. Wie viele es sind, wird nie zu ermitteln sein. Wer weiß allein schon, wie viele die Ostsee verschlungen hat, wie viele Opfer die DDR-Behörden verschwiegen haben, wenn keine West-Medien in der Nähe waren? Keine Bemerkung der Parteifunktionäre nach der Wende hat wohl mehr verletzt als ihr „Selber schuld“.
Jeder „Durchbruch“ für sich allein zeigte schon die Verzweiflung und Ausweglosigkeit, in dieser Diktatur zu leben. Jeder erfolgreiche Versuch aber ließ bei den Zurückgebliebenen die Gedanken wandern: Vielleicht könnte man doch auch so etwas machen. Man müsste sich nur etwas ganz Neues ausdenken. Hatte man Kinder, brach man mit dem Nachdenken bald ab: Das Risiko für ihr Leben war zu groß. Aber das Träumen konnten einem die „Einen“ ja nicht verbieten.
Zu welch skurrilen Einfällen dieses Träumen führen konnte, zeigte sich auch bei mir: In den siebziger Jahren eilte der Rückenschwimmer Roland Matthes für die DDR von Sieg zu Sieg. Als Physiker dachte ich mir einen neuen Rückenstil aus, der den Luftwiderstand der herausgehobenen Arme vermied, und fing an, damit zu trainieren. Aber ich war dann doch nicht schnell genug. 

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Sind nach Errichtung der Diktatur die Grenzen geschlossen, wird dem freien Meinungs- und Informationsfluß der Kampf angesagt. Die herrschende Partei verbreitet dazu zunächst eine Staatsdoktrin, der sich jeder Bürger bedingungslos zu unterwerfen hat.
In der DDR war das der von LENIN und STALIN formulierte „Marxismus-Leninismus“. Er durchdrang alle Lebensbereiche und gipfelte in der Botschaft vom unvermeidlichen „Sieg des Kommunismus im Weltmaßstab“. Zur Durchsetzung dieser Botschaft in den Hirnen der Menschen wurde ein propagandistisches Trommelfeuer entwickelt. Wichtige Werkzeuge waren unter anderen alle Medien: Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen. Ideologischer Meinungsführer in der DDR war die Zeitung „Neues Deutschland“, das Zentralorgan der Partei. Es verbreitete die offizielle Meinung der obersten Parteiorgane zu nationalen und internationalen Ereignissen. Da diese Sprachregelung manchmal auf sich warten ließ, war die Partei so lange nicht handlungsfähig. Das führte regelmäßig zur Verwirrung unter den Genossen, da der objektive Sachverhalt durch Rundfunk und Fernsehen aus dem Westen längst bekannt war.
Dieses ständige propagandistische Trommelfeuer war nur schwer zu ertragen. Man könnte denken, dass es, schon durch seine oft primitiven Formen und durch die ständige Anwesenheit der elektronischen Westmedien, relativ wirkungslos bleiben musste.
Das ist aber nicht der Fall gewesen. Die ideologische Arbeit der Partei hat sehr wohl Erfolge erzielt. So konnte man in der Tat immer mutloser werden, wenn man die Ausbreitung kommunistischer Bewegungen auf anderen Kontinenten beobachtete und die dazu verbreiteten Landkarten immer weiter rot eingefärbt wurden. Und darum ging es den Ideologen vor allem: Den eingesperrten Menschen sollte die Hoffnung und der Mut auf Veränderung genommen werden.
Kennzeichen dieser ideologischen Beeinflussung, und damit eigentlich des ganzen Systems, war die Lüge. Das stellte schon SOLSCHENITZIN in seinem Nobelpreisvortrag fest. Unangenehme Wahrheiten wurden entweder verschwiegen, und ihre Verbreitung mit besonders harten Strafen verfolgt, oder so zurechtgelogen, dass sie mit der Staatsdoktrin gerade noch vereinbar waren.
Die Kinder in der Schule waren diesem Zwiespalt besonders ausgesetzt: Von den Lehrern hörten sie die offizielle Version eines Ereignisses, die Eltern und die Wirklichkeit belehrten sie eines besseren. Schnell lernten sie, sich anzupassen und zu verstellen. Auch hier haben die „Anderen“ unter den Lehrern, oft unter hohem persönlichem Risiko, diese Situation erträglicher gestaltet.
Diese Notwendigkeit der Anpassung und Verstellung, der Vorspiegelung einer fremden Meinung, traf im Prinzip auf alle Bürger zu; in diesem Fall sogar für die Genossen, denen die Abenteuerlichkeit der Manipulationen realer Ereignisse natürlich nicht verborgen bleiben konnte.
Das galt auch für die Hochschulen, wo der Marxismus-Leninismus in jedem Studienfach über sechs Semester in speziellen Lehrveranstaltungen verbreitet wurde. Von den Studenten wurden in den zugehörigen Seminaren ständige Bekenntnisse abverlangt.
Erfolglos aber waren, wie gesagt, diese ganzen Anstrengungen nicht: Noch heute hört man, vornehmlich in Osten, dass der Sozialismus doch eigentlich gut, nur seine Realisierung nicht ganz geglückt sei. Aber auch indoktrinierte Kurformel, wie die der „BRD“, womit Westdeutschland gemeint war, geistern weiter herum und behindern das Zusammenwachsen unseres Volkes.
Kennzeichnend für eine Diktatur ist die Feindschaft zum Buch. Das war schon in der braunen Diktatur so, man denke nur an die Bücherverbrennung. Jedes gedruckte Wort, so denken die Herrschenden, kann in der Verkleidung der Konterbande einherkommen. Also muß es ausnahmslos zensiert und notfalls verboten werden. Nichts ist für die eigene Herrschaft gefährlicher als ein staatsübergreifender Gedankenaustausch, er kann zum Einsickern feindlicher Auffassungen dienen.
Man machte sich in der DDR gegenseitig Mut, indem man sich „feindliche“ Bücher verlieh. Die Buchhandlungen waren „Horte der Reaktion“, denn immer wieder kam es vor, dass der Zensor Stellen übersehen hatte, dass man harmlose Kinderbücher nur „richtig lesen“ musste, um ihre Feindschaft zum System zu erkennen. Im Fernsehen war das zum Beispiel die sowjetrussische Serie „Hase und Wolf“, die als Ausdruck der ganzen Brutalität der Unterdrücker und die schließliche Überlegenheit der Unterdrückten gedeutet werden konnte.
Obwohl man in der DDR, von Ausnahmegebieten abgesehen, Rundfunk und Fernsehen aus dem Westen empfangen konnte, war die Nichtexistenz einer freien Presse ein schweres Handicap bei der Gewinnung eines objektiven Bildes von den Geschehnissen und eine Chance für die ideologischen Meinungsbildner, die Menschen zu desinformieren.
Schwerwiegende Auswirkungen hatte dieses Handicap vor allem auf die Vorstellung der Menschen von den geschichtlichen Abläufen, besonders der jüngsten Zeit. Der offizielle „Historische Materialismus“ vereinfachte die historischen Abläufe ohnehin zu einer Geschichte von Klassenkämpfen. Doch schwerwiegender waren die historischen Manipulationen der deutschen Geschichte vor der DDR: Wie war die Rolle der kommunistischen Partei in der Weimarer Republik und bei der Machtergreifung HITLERs? Gab es tatsächlich fast nur kommunistischen Widerstand im Nazi-Regime? Wie war die Zusammenarbeit HITLERs mit STALIN? Wie ist der 2. Weltkrieg und vor allem der „Große Vaterländische Krieg“ im Osten tatsächlich verlaufen? Warum zielte alle deutsche Geschichte auf die Gründung der DDR? Und daraus ableitend: Warum war die DDR ein „Hort des Friedens“, die „BRD“ aber ein „Hort des Krieges“? Auch hier vergiftet Pseudowissen aus dieser Zeit die Diskussionen heute.

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Im Gegensatz zur braunen Diktatur konnte sich die DDR nur auf geringe Zustimmung in der Bevölkerung verlassen. Infolgedessen ist die Frage berechtigt, ob nicht massiver Widerstand aus allen Schichten hätte zur Überwindung der roten Diktatur führen können.
Zunächst hat es diesen Widerstand gegeben. Und seine gewissenhafte Dokumentierung und Würdigung sind noch längst nicht abgeschlossen. Traumatisch aber wirkten die Ereignisse 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn, die zeigten, dass selbst die Verjagung der einheimischen Unterdrücker die äußeren Machtverhältnisse nicht ändern konnten. Ein Blick auf die „grünen Zäune“, mit denen in der DDR die Enklaven der Roten Armee gegen die Blicke der Öffentlichkeit abgeschirmt waren, ließ oft jede Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse sinken, ließ jeden Gedanken an aktiven Widerstand im Keim ersticken.

Einige haben nach dem Bau der Mauer ihre Grundsätze nach dem Motto „Man lebt nur einmal“ über Bord geworfen und sind in die Partei gegangen. Aber das sind wohl vergleichsweise nur wenige gewesen. Weit mehr haben resigniert, haben sich ins Private zurückgezogen, haben sich noch mehr angepasst als vorher, haben sich das geistige oder, schlimmer noch, das moralische Rückgrat brechen lassen.
Manchen von ihnen ist der Westdeutsche nach der Wende fassungslos begegnet, wenn sie im Trainingsanzug oder in anderer nachlässiger Kleidung durch die Städte und Dörfer getrottet sind und vor sich hin gejammert haben: „So haben wir uns das nicht vorgestellt.“
Der Ostblock und mit ihm die DDR waren der Meinung, sehr klug zu sein, durch den Helsinki-Prozeß ihren durch den zweiten Weltkrieg erworbenen Besitzstand ein für allemal zu sichern: Garantien für die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen gegen scheinbar läppische Zugeständnisse bei sogenannten westlichen Menschenrechten, über deren Realisierung ohnehin „wir entscheiden“. Es war aber der Todeskeim für das System: Viel mehr Menschen, als man sich je vorstellen konnte, und das war entscheidend, haben sich nicht zerbrechen lassen, haben auch die kleinste Möglichkeit zur Veränderung ergriffen, haben zu entscheidender Zeit und an entscheidender Stelle Mut und Verantwortung bewiesen und das System hinweggefegt. Trotz jahrzehntelangem Leben in einer Diktatur!

Prof. Dr. Lothar Teschke

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